Kolumne von Katja Gentinetta in der NZZaS vom 22. August 2020

«Konzernverantwortungsinitiative» stellt moralische Ansprüche, die sie selbst nicht erfüllt

Dass Firmen verantwortlich sind für Handlungen, die sie bewusst unternehmen, ist unbestritten. Doch wie steht es um Effekte, die sie nicht selbst verursacht haben? In diesem Punkt geht die Initiative zu weit.

Wenn das verbale Scharmützel zwischen Ulrich Bigler, dem Direktor des Gewerbeverbands, und Monika Rühl, der Direktorin von Economiesuisse, zur sogenannten «Konzernverantwortungsinitiative» und deren Bedeutung für die KMU etwas Gutes hat, dann das: Jeder, für den nicht alle Unternehmen einfach des Teufels sind, tut gut daran, sich genauer mit dieser anspruchsvollen Initiative zu befassen.

Mit der Verantwortung für Menschenrechte und Umwelt legt sie die Latte hoch. Als politische Philosophin interessiert mich deshalb, wie sie ihr Anliegen einlösen will und ob sie der Sache dienlich ist.

Ein kleiner philosophischer Diskurs vorweg: Jedes Verantwortungsprinzip setzt eigenständig handelnde Individuen und heute auch Unternehmen voraus. Eine hierfür zentrale Unterscheidung, nämlich jene zwischen gewolltem und ungewolltem Handeln, macht bereits Aristoteles in seiner «Nikomachischen Ethik».

Nach ihm sind wir verantwortlich für Handlungen, die wir bewusst, also gewollt unternehmen; und wir müssen selbst der Urheber dieser Handlung sein. Ungewollt handeln wir, wenn wir dazu gezwungen werden oder nicht wissen, was wir tun, weshalb wir dafür auch nicht vollständig zur Verantwortung gezogen werden, namentlich dann, wenn wir eine Tat bereuen. Das entbindet uns jedoch nicht davon, das für unsere Handlungen erforderliche Wissen einzuholen.

Somit schützt, wie die Redewendung sagt, Unwissenheit vor Strafe nicht. Allerdings weist bereits Aristoteles darauf hin, dass ein noch so gewissenhaft zusammengetragenes Wissen nie alle Einzelheiten und Umstände umfassen kann.

Was bedeutet das konkret? Die Unternehmensverantwortungsinitiative verlangt zum einen, dass Unternehmen bei der Verfolgung ihrer wirtschaftlichen Ziele auch Menschenrechte und Umweltvorschriften achten und ihr diesbezügliches Handeln sorgfältig prüfen und dokumentieren. Das ist richtig, und Unternehmen tun dies heute schon.

Mit Aristoteles im Ohr frage ich mich: Kann ein Unternehmen für eine Handlung verantwortlich gemacht werden, deren Urheber es nicht ist?

Dennoch können sie, so gewissenhaft sie auch sind, nicht für sämtliche Handlungen in ihrem gesamten Geschäftsumfeld, wozu gemäss Initiative nicht nur Tochterunternehmen, sondern auch Kunden und Lieferanten gehören, zuständig sein und über alle Einzelheiten und Umstände Bescheid wissen.

Die Initiative setzt jedoch genau hier an: Sie macht Schweizer Unternehmen für sämtliche Handlungen in ihrem Umfeld verantwortlich. Sie werden damit ohne Absicht zu «Urhebern», und es ist an ihnen, aufzuzeigen, dass sie alles unternommen haben, um dieses fehlbare Verhalten zu verhindern.

Mit Aristoteles im Ohr frage ich mich: Kann ein Unternehmen für eine Handlung verantwortlich gemacht werden, deren Urheber es nicht ist? Und kann es alle Einzelheiten nachweisen, wenn es nicht alle Umstände kennt?

Darin liegt für mich die Crux der Initiative: Sie verknüpft ein moralisch korrektes Anliegen – dass Firmen für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden – mit einer moralisch fragwürdigen unterstellten Urheberschaft und impliziten Vorverurteilung, weil sie es den Firmen überlässt, sich dagegen zu wehren. Das ist nicht nur ethisch fragwürdig, sondern auch im internationalen Rechtsvergleich einzigartig.

Dieses Verfahren gilt, um auf den eingangs erwähnten Streit zurückzukommen, nicht nur für die «bösen multinationalen Konzerne». Artikel 101a, über dessen Aufnahme in die Bundesverfassung wir im November abstimmen, trägt den Titel «Verantwortung von Unternehmen»; von «Konzernen» ist darin nicht die Rede.

Betroffen sind also auch alle «anständigen KMU», die, wie die Initianten stets beteuern, nichts zu befürchten hätten. Zwar kann in der Umsetzung der Initiative für KMU eine weniger weitreichende Sorgfaltsprüfung vorgesehen werden. Das nützt ihnen aber, wenn sie vor Gericht beweisen müssen, dass ein Vergehen nicht ihr Verschulden ist, genau nichts.

Ob die Initiative zielführend ist? Kaum, denn Unternehmen werden weniger in Risikoländern investieren wollen; und sie werden sich juristisch mit allen Mitteln absichern – zum Schaden der Entwicklung in diesen Ländern. Das ist kein billiges oder böses ökonomisches Argument, sondern eine wichtige ethische Folgenabschätzung.

Der Gegenvorschlag ist diesbezüglich konsequent: Er verlangt von Schweizer Unternehmen strengere Selbstverpflichtungen und Berichterstattungen, macht sie aber nicht zu «Urhebern» von Handlungen Dritter.

Wie die Initianten, die an andere derart hohe moralische Ansprüche stellen, selbst wider besseres Wissen unverdrossen von einer «Konzernverantwortungsinitiative» und einer «Selbstverständlichkeit» sprechen können, ist mir – sachlich und moralisch – ein Rätsel.

Katja Gentinetta, politische Philosophin, ist Autorin, Lehrbeauftragte und Verwaltungsrätin.

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